Supernumerary Robotic Limb Systeme, kurz SRL-Systeme, sind neuartige tragbare Roboter, die Menschen zusätzliche Gliedmaßen zur Verfügung stellen. Das Wort „supernumerary“ bedeutet übersetzt „überzählig“ – SRL-Systeme fügen dem Körper also einen oder mehrere künstliche Arme oder Beine hinzu, die über die üblichen vier Extremitäten hinausgehen. Im Gegensatz zu einer Prothese, die einen verlorenen Körperteil ersetzt, und im Unterschied zu einem Exoskelett, das die Kraft oder Ausdauer vorhandener Gliedmaßen unterstützt, dienen SRL-Systeme zur Erweiterung der körperlichen Fähigkeiten durch zusätzliche Roboterglieder. Es handelt sich um eine neue Form der Mensch-Maschine-Integration, bei der der Nutzer durch die extra Roboterarme oder -beine Aufgaben bewältigen kann, die mit den natürlichen Gliedmaßen allein nicht möglich wären.
Diese tragbaren Robotersysteme werden direkt am Körper getragen – beispielsweise als Schulter-, Rücken- oder Hüftgurt mit montierten mechanischen Armen. Supernumerary Robotic Limb Systeme sollen den Menschen im Alltag, in der Arbeit oder in speziellen Situationen unterstützen, indem sie ein „drittes“ oder „viertes“ Arm- bzw. Beinpaar bereitstellen. Forschung und Entwicklung auf diesem Gebiet haben in den letzten Jahren stark zugenommen: Erste Prototypen zeigen bereits, wie ein Mensch mit Hilfe solcher zusätzlichen robotischen Gliedmaßen schwere Objekte halten, mehrere Tätigkeiten gleichzeitig ausführen oder seine Balance verbessern kann.
Übersicht
Technische Grundlagen
Ein SRL-System besteht typischerweise aus mechanischen Gliedmaßen (Roboterarmen oder -beinen) mit Gelenken, die über Aktuatoren (Motoren) bewegt werden. Diese Roboterglieder sind an einer Tragevorrichtung befestigt, die der Nutzer wie einen Rucksack oder Gurt am Körper trägt. In dieser tragbaren Basis befinden sich meist auch die Steuerelektronik und die Energieversorgung (Batterien). Die zusätzlichen Arme oder Beine besitzen eigene Gelenkachsen und Freiheitsgrade, was ihnen große Bewegungsfreiheit verleiht. Anders als Exoskelette sind ihre Gelenke nicht mit den Gelenken des Nutzers ausgerichtet – sie sind kinematisch unabhängig vom menschlichen Skelett und können sich optimal für die jeweilige Aufgabe positionieren. Dadurch kann ein SRL-Arm z.B. ein Objekt festhalten oder sich abstützen, ohne die Bewegungen des menschlichen Arms zu behindern.
Um das zusätzliche Gliedmaß zu steuern, werden verschiedene Sensoren eingesetzt, die die Absichten oder Bewegungen des Nutzers erfassen. Beispielsweise kommen Inertialsensoren (IMUs) zum Einsatz, um Körperbewegungen zu messen, oder Drucksensoren an Händen und Füßen, die als Schalter dienen. In manchen Systemen werden auch Muskelsignale per Elektromyografie (EMG) ausgelesen, um aus der Anspannung bestimmter Muskeln Befehle für den Roboter abzuleiten. Zusätzlich liefern Kraftsensoren in den Robotergliedern Rückmeldung über den Kontakt mit Objekten oder über die aufgewendete Kraft. Die Steuerung eines SRL-Systems erfolgt über eine zentrale Recheneinheit, die die Sensorsignale verarbeitet und die Aktuatoren in Echtzeit ansteuert. Eine große Herausforderung ist es dabei, die Mensch-Maschine-Schnittstelle so zu gestalten, dass die Bedienung intuitiv bleibt: Da ein Mensch von Natur aus nicht mehr als zwei Arme steuern kann, müssen intelligente Lösungen gefunden werden, um die zusätzlichen Roboterglieder ohne Überforderung des Nutzers zu kontrollieren.
Häufig werden ungenutzte Bewegungsressourcen des Körpers als Steuerungssignale herangezogen. Beispielsweise lassen sich Fußbewegungen oder Schultergesten verwenden, um einen am Oberkörper montierten Roboterarm zu dirigieren, während die natürlichen Arme frei bleiben. Einige Prototypen nutzen etwa druckempfindliche Einlagen im Schuh: Krümmt der Träger die Zehen in bestimmter Weise, öffnet oder schließt sich ein Greifer am robotischen Arm. Andere Ansätze lesen Hand- und Armbewegungen aus und steuern damit zusätzliche Finger. Zudem können SRL-Systeme teilautonom arbeiten, um den Nutzer zu entlasten: So könnte ein Zusatzarm anhand von Kamerabildern und Sensoren erkennen, wo ein Objekt gehalten werden muss, und sich selbstständig dort positionieren, während der Mensch lediglich die Aktion freigibt. Wichtig ist auch die Rückmeldung an den Nutzer – etwa durch Vibration oder Druck – damit dieser spürt, was der zusätzliche Arm gerade tut.
Mögliche Anwendungsbereiche
Medizin: In der Medizin können SRL-Systeme Menschen mit körperlichen Einschränkungen unterstützen. Beispielsweise ermöglichen zusätzliche robotische Gliedmaßen Patienten mit gelähmten oder amputierten Extremitäten, gewisse Funktionen auszugleichen. Ein zusätzlicher Roboterarm könnte einem Rollstuhlfahrer helfen, Gegenstände zu erreichen und zu greifen, die außerhalb der Reichweite liegen. Auch in der Rehabilitation kommen solche Systeme infrage: Ein SRL-System kann einem Schlaganfallpatienten mit einer gelähmten Körperseite helfen, bimanuale Aufgaben durchzuführen – etwa indem ein Roboterglied ein Objekt stabil hält, während die gesunde Hand daran arbeitet. Auf diese Weise tragen SRL-Systeme dazu bei, die Selbstständigkeit und Mobilität von Patienten zu erhöhen.
Industrie: In industriellen Umgebungen bieten SRL-Systeme die Möglichkeit, die Fähigkeiten von Arbeitern zu erweitern und ergonomischere Arbeitsabläufe zu schaffen. So könnten in der Montage oder Wartung zusätzliche Roboterarme eingesetzt werden, um schwere Bauteile zu halten, während der Arbeiter beide Hände für Werkzeuge frei hat. Dadurch lässt sich die Arbeit, die normalerweise zwei Personen erfordern würde, von einer einzelnen Person bewältigen. Gleichzeitig reduzieren SRL-Systeme die körperliche Belastung: Ein Roboterarm kann über Kopf Lasten abstützen oder vibrierende Werkzeuge führen, sodass Gelenke und Muskeln des Menschen geschont werden. Langfristig könnten solche Systeme dazu beitragen, Arbeitsunfälle zu verringern und die Effizienz in Fertigungsprozessen zu steigern.
Alltag: Auch im Alltagsleben könnten SRL-Systeme nützlich sein. Ältere Menschen oder Personen mit eingeschränkter Mobilität könnten dank eines tragbaren Roboterarms alltägliche Aufgaben leichter bewältigen – zum Beispiel Einkäufe tragen, Türen öffnen oder sich beim Aufstehen abstützen. Für gesunde Nutzer bieten SRLs ebenfalls interessante Möglichkeiten: Man stelle sich vor, man könnte mit einer zusätzlichen „Hand“ eine Tür öffnen, während man in den echten Händen volle Einkaufstüten hält. Oder beim Heimwerken hält ein extra Arm das Werkstück, sodass beide natürlichen Hände frei zum Arbeiten sind. Solche Anwendungen sind noch visionär, doch zeigen frühe Experimente, dass Menschen in gewissem Umfang lernen können, ein zusätzliches Gliedmaß im Alltag einzusetzen. Damit könnten SRL-Systeme in Zukunft zur Entlastung im Haushalt oder zur Unterstützung pflegender Angehöriger beitragen.
Spezielle Einsatzgebiete: Darüber hinaus werden SRL-Systeme in speziellen Kontexten diskutiert – etwa im Militär, im Katastrophenschutz oder in der Raumfahrt. Soldaten könnten mit zusätzlichen robotischen Gliedmaßen schwere Ausrüstung leichter transportieren oder parallel verschiedene Geräte bedienen. Im Katastropheneinsatz ließen sich Rettungskräfte mit SRL-Armen ausstatten, um Trümmer zu bewegen, sich bei gefährlichen Kletteraktionen abzustützen oder Verletzte sicher zu bergen. In der Raumfahrt wurde kürzlich ein Konzept vorgestellt, bei dem Astronauten ein Paar zusätzliche robotische Beine tragen: Diese sollen im Fall eines Sturzes auf dem Mond oder Mars den Astronauten wieder aufrichten und stützen, damit er weniger Energie aufwenden muss und Verletzungsrisiken reduziert werden. Solche Szenarien verdeutlichen das breite Potenzial von SRL-Systemen jenseits der gewöhnlichen Alltagssituationen.
Beispiele aus der Praxis
Ein frühes Beispiel für ein SRL-System stammt vom Massachusetts Institute of Technology (MIT): Dort wurde ein tragbarer Roboter mit zwei zusätzlichen Armen entwickelt, der bei Montagearbeiten – etwa im Flugzeugbau – assistiert. Das System wird wie ein Hüftgurt getragen; an der Hüfte sind zwei Roboterarme mit je drei Gelenken befestigt. In Versuchen konnte ein Arbeiter mit Hilfe dieser zusätzlichen Arme ein schweres Bauteil über Kopf fixieren und zugleich mit seinen natürlichen Armen Schraubarbeiten ausführen. Die Roboterarme übernahmen das Gewicht des Bauteils und entlasteten damit die Schultern und den Rücken des Nutzers. Zudem kann einer der Roboterarme an der umgebenden Struktur Halt finden, um den Körper des Trägers zu stabilisieren, während der andere Arm ein Werkzeug führt. Auf diese Weise fungiert das System als eine Art „zweites Paar Hände“ und verbessert sowohl die Sicherheit als auch die Präzision bei anstrengenden Arbeiten.
Auch in Japan wurden innovative SRL-Konzepte erprobt. Das Projekt „MetaLimbs“ der Universität Tokio demonstrierte zum Beispiel zwei zusätzliche Roboterarme, die der Nutzer mit seinen Füßen steuern konnte. Sensoren erfassten Bewegungen der Knie und Zehen, um die Bewegungen der Roboterarme sowie das Öffnen und Schließen deren Greifhände zu kontrollieren. So war es einer Person möglich, mit den künstlichen Armen ein Objekt zu halten, während die natürlichen Hände andere Aufgaben ausführten. Das System gab dem Nutzer sogar Rückmeldungen: Berührte eine Roboterhand ein Objekt, spürte der Nutzer einen leichten Druck oder Vibration an den Füßen. Diese Versuchsanordnung zeigte eindrucksvoll, dass der Mensch ungenutzte Koordinationsfähigkeit besitzt – die Füße, normalerweise primär zum Gehen verwendet, können als Steuerorgan für zusätzliche „Hände“ dienen.
Speziell für den medizinischen Bereich wurde am MIT ein System namens „Supernumerary Robotic Fingers“ entwickelt. Dabei handelt es sich um zwei robotische Finger, die am Unterarm getragen und gemeinsam mit der natürlichen Hand eingesetzt werden. Dieses System richtet sich vor allem an Schlaganfall-Patienten oder Menschen, denen die Nutzung einer Hand teilweise verwehrt ist. Die zusätzlichen Finger ermöglichen es, Gegenstände zu greifen und zu manipulieren, die sonst zwei Hände erfordern würden. Beispielsweise kann ein Nutzer mit den Roboterfingern ein Gefäß halten, während die gesunde Hand den Deckel öffnet. Die Steuerung erfolgt über eine Kopplung der Bewegungen: Sensoren messen die Position der vorhandenen Finger und ein Algorithmus berechnet die passende Bewegung der robotischen Finger, um einen gemeinsamen Greifvorgang auszuführen. In ersten Tests gelang es Probanden mit nur einer funktionstüchtigen Hand, dank der beiden zusätzlichen Finger komplexe Aufgaben wie das Öffnen einer Flasche oder das Bedienen von Küchenutensilien zu bewältigen. Dies zeigt das große Potenzial solcher Systeme in der Rehabilitation und für mehr Selbstständigkeit im Alltag.
Chancen und Herausforderungen
Chancen: Supernumerary Robotic Limb Systeme bieten vielfältige Chancen. Sie könnten die Leistungsfähigkeit des Menschen steigern, ohne ihn zu ersetzen – gewissermaßen als „verlängerter Arm“ am Körper. In der Arbeitswelt ließen sich damit Produktivität und Arbeitssicherheit erhöhen, weil Arbeiter Unterstützung bei schweren oder monotonen Aufgaben erhalten und Ermüdungserscheinungen abnehmen. Menschen mit Behinderungen oder ältere Personen wiederum gewinnen durch SRLs an Selbstständigkeit: Ein zusätzliches Gliedmaß kann verlorene Funktionen kompensieren und neuen Freiraum im Alltag schaffen. Nicht zuletzt eröffnen SRL-Systeme neue Handlungsmöglichkeiten: Mit mehr als zwei Armen könnten völlig neue Arbeitsprozesse, sportliche Aktivitäten oder künstlerische Ausdrucksformen entstehen, die bisher undenkbar waren.
Herausforderungen: Gleichzeitig gibt es eine Reihe von Herausforderungen. Eine technische Hürde ist die Konstruktion: Die zusätzlichen Roboterglieder müssen leicht und kompakt genug sein, um sie den ganzen Tag über tragen zu können, zugleich aber stark und robust genug, um echte Unterstützung zu bieten. Auch die Energieversorgung ist kritisch – leistungsfähige Batterien sind notwendig, sollen das System aber nicht unnötig schwer machen. Ein zentrales Problem ist die Steuerung und Nutzerakzeptanz: Die Bedienung eines extra Arms darf den Anwender nicht überfordern. Entwickler müssen Schnittstellen finden, die einfach erlernbar sind und sich möglichst nahtlos in die bestehenden Bewegungsabläufe integrieren. Gelingt dies nicht, besteht die Gefahr, dass die Geräte im Alltag nicht genutzt werden.
Hinzu kommen Fragen der Sicherheit und Verantwortung. Ein am Körper getragener Roboterarm muss so gestaltet sein, dass er den Menschen nicht verletzt – weder den Träger selbst noch andere in seiner Umgebung. Sensoren und Software müssen zuverlässig Kollisionen erkennen und verhindern. Für den Fall eines Fehlverhaltens oder Defekts muss es Not-Aus-Mechanismen geben. Darüber hinaus stellen sich ethische Fragen: Wie verändert sich das Körpergefühl, wenn ein Mensch dauerhaft mit zusätzlichen Gliedmaßen ausgestattet ist? Könnte es zu einer Zwei-Klassen-Gesellschaft kommen, wenn sich eines Tages nur einige Menschen durch technische Gliedmaßen „verbessern“ können? Solche gesellschaftlichen und ethischen Aspekte gilt es frühzeitig mitzudenken. Schließlich bewegen sich SRL-Systeme rechtlich in einem Graubereich. Wer haftet bei Unfällen? All diese Herausforderungen machen deutlich, dass trotz vielversprechender Fortschritte noch erhebliche Entwicklungsarbeit nötig ist, bevor SRL-Systeme ihren Weg aus den Labors in den breiten Alltag finden.

